Unsere Mütter, unsere Väter

Dürfen wir deutsche Soldaten und Kriegsgewinnler als Opfer darstellen? Darf eine Erzählung dem Grauen des Vernichtungskrieges ein menschliches Antlitz geben? Gibt es das überhaupt? Ein Dilemma.

Unsere Mütter unsere Väter
© ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“. Tom Schilling als Friedhelm, Kamera: David Slama

Der Dreiteiler
In den letzten Tagen lief im ZDF der hochgelobte 3-Teiler „Unsere Mütter, unsere Väter“, der am Beispiel von fünf Freunden erzählt, wie Menschen im Krieg verrohen und ihre Leben und ihre Moral fast komplett zerstört werden. Zwei von ihnen kommen an die Ostfront. Brüder, der eine wandelt sich vom Pazifisten zum kaltblütigen Soldaten, der andere vom Vorzeigesoldaten zum Deserteur. Einer ist Jude, schafft es aus dem Transport ins KZ zu fliehen und landet bei polnischen Partisanen (die in dem Film als Judenhasser dargestellt werden!). Eine ist als Krankenschwester im Frontlazarett und wird am Ende des Krieges von den Russen vergewaltigt, aber schafft es zu überleben. Die fünfte im Bund ist eine erfolgreiche Sängerin im deutschen Reich und versucht mit ihren Beziehungen zu einem Sturmbannführer ihrem jüdischen Freund Papiere zu verschaffen. Das gelingt nicht, was sie aber nicht weiß. Am Ende wird ihr die Affäre zu ihrem Nazifreund zum Verhängnis, er steckt sie erst ins Gefängnis und schließlich wird sie in den allerletzten Kriegstagen an die Wand gestellt und erschossen.
Die drei Überlebenden treffen sich in der Schlusssequenz des Films in der Bar wieder, in der wir sie zu Beginn der Serie kennengelernt haben. Gezeichnet vom Krieg sind nicht nur ihre Körper und Gesichter, sondern auch ihre Freundschaft. Als kleiner schwacher Funke glitzert sie in dem Alkohol auf, mit dem die drei auf die beiden im Krieg gebliebenen anstossen.

Ich möchte nicht weiter auf die Qualität der Serie eingehen. Das haben andere ausführlich getan.

Was mich weitergucken lassen hat, waren ein allgemeines Interesse am Thema, die tolle schauspielerische Leistung von Tom Schilling und ein Mitgefühl für deutsche Kriegsschicksale, das ich mir bislang nicht zugestanden habe. Und an der Stelle beginnt das Dilemma.

Wie erzählen?
Wie können Deutsche vom Krieg erzählen?
Die deutsche Kriegsbestie, der kalte Massenmörder, die industrielle Vernichtung von Millionen von Juden, der größenwahnsinnige Angriffskrieg? Ja, davon dürfen wir nicht aufhören zu berichten.
Der einfache Wehrmachtssoldat, der Mitläufer, die Kriegsgewinnler, die Kulturschaffenden, die entweder weggesehen haben, oder nur deshalb Karriere im Dritten Reich machen konnten, weil sie eine Lücke auffüllten, die zuvor durch Berufsverbote oder Deportation gerissen wurde? Auch dies war und ist Thema vieler Erzählungen.
Jetzt drehte das ZDF einen Dreiteiler, in dem wir an der Seite von deutschen Männern und Frauen in den Krieg ziehen, wir erleben hautnah wie sich diese jungen Menschen verändern, wie ihre moralischen Grundwerte, ihre Erwartungen und Wünsche an das Leben, ihre Weltbilder zerstört werden. Sie werden zu Mördern, zu Mitläufern, sie kämpfen mit allen Mitteln um das nackte Überleben. Und in all dem blitzen immer wieder die Menschen auf, die sie waren, bevor sie in den Krieg zogen, Junge Leute mit allen Facetten des Menschlichseins. Sie zeigen Mitgefühl und wecken damit unseres. Sie leiden an ihrer eigenen Verrohung und werden dadurch zum Opfer.

Das Dilemma
Dürfen die das?
Dürfen deutsche Wehrmachtssoldaten und Mitglieder der Waffen-SS als Opfer gezeigt werden? Sitzen wir damit in der Relativismusfalle und verharmlosen die Taten der Deutschen im 2. Weltkrieg? Handelt es sich um den Versuch des Reinwaschens? Seht her, auch wir haben gelitten, sind missbraucht und zerstört worden? Schlagen wir den eigentlichen Opfern des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges damit nicht erneut ins Gesicht?

Aber wie sollen wir das Grauen zeigen, wenn die menschlichen Gesichter dahinter verschwinden? Ohne menschliches Antlitz bleibt das Grauen abstrakt. Hannah Arendt hat mit ihrer Auseinandersetzung um die Banalität des Bösen, Christopher Browning oder Klaus Theweleit haben mit „Ganz normale Männer“ bzw. „Männerphantasien“ vor Jahren schon vorgemacht, wie es gelingen kann, gewöhnliche Menschen mit dem Morden zusammenzubringen. Der Schrecken wird dadurch nicht kleiner, ganz im Gegenteil.

Die Last des Schweigens
Es muss also möglich sein, die Seite der Täter in all ihren Facetten darzustellen, ohne zu relativieren. Auch wir Deutschen sind Opfer. Abgesehen von der Verrohung und Zerstörung, die in dem Dreiteiler gezeigt werden, von den vielen zivilen Opfern auch auf deutscher Seite, reicht der Verlust viel weiter und ist bis heute deutlich spürbar. Das jahrzehntelange Schweigen in den deutschen Familien, die Versteinerung der Menschen durch abgespaltene Schuld, die Vernichtung des vielfältigen kulturellen Lebens, die Vertreibung von Wissenschaft und Kunst. All das ist kein Alleinstellungsmerkmal, auch in den jüdischen Familien wurde jahrzehntelang geschwiegen, sind die Spuren der Zerstörung bis heute sichtbar und die Schmerzen groß. Noch immer zu groß, um sie auszuhalten? Aber welchen Sinn macht es Schmerzen und Verlust gegeneinander aufzurechnen? Natürlich kann es keinen Vergleich geben zwischen den schrecklichen Folgen unserer Taten für die Millionen von Opfern. Nichts macht uns gleich in Fragen von Schuld und Ursache, aber zu erkennen, dass Vernichtungskrieg und Shoah Folgen für alle hat, weil es auf allen Seiten, an allen Fronten, in allen politischen Lagern, egal ob kaltblütiger Massenmörder oder Juden in den deutschen Vernichtungslagern Menschen waren. Und Menschen müssen reden, müssen sich zeigen dürfen mit all ihren grausamen wie schönen Seiten. Erst wenn das möglich ist, wenn wir es schaffen, Ambivalenzen auszuhalten und Empathie für Menschen zu entwickeln, die sich schuldig gemacht haben, entwickeln wir die Fähigkeit zu reagieren und zu agieren, wenn der fruchtbare Schoß sich mal wieder regt. Wehret den Anfängen! Ein Anfang ist gemacht. Geschwiegen haben wir lange genug!


Umgezogen

Dieses Blog wurde verlassen, seine Bewohnerin wohnt jetzt hier.


Buchrezension: Dat Schönste am Wein is dat Pilsken danach

Ich komme nicht aus dem Ruhrpott, aber nach der Lektüre dieses Buches tut es mir ein bisschen Leid, dass das so ist. Die Sehnsucht der beiden Autoren nach ihrer Heimat ist in jedem Kapitel spürbar. Eine Sehnsucht, die man wohl nur nach etwas empfinden kann, was einem unwiederbringlich verloren gegangen ist. In jedem Kapitel beleuchten die beiden Autoren einen anderen Aspekt der Kultur und Geschichte des Ruhrpotts. In kurzweiligen, teils traurigen, oft hochkomischen und immer typisch Ruhrpott erscheinenden Geschichten dringt der Leser immer tiefer ein in die Lebenswelt der Ruhris. Sehr persönlich und gefühlvoll, aber immer auch mit dem distanzierten Blick des Fortgegangenen nehmen Konrad Lischka und Frank Patalong den Leser mit auf die Reise durch den Pott. Eine mitreißende Liebeserklärung.

Dat Schönste am Wein is dat Pilsken danach

Bleiverglasung in der Lohnhalle
CC BY-NC 2.0 by jazzlog


Ein Wort

Gleißend, aus der Mitte der Welt

Ein Wort im Mund zerfällt

Am Rand des Zungenbandes

Ein Schrei, dem Traum enteilt

PB21


Medien im Wandel der Zeit

Hab gerade in Als die Welt noch unterging von Frank Apunkt Schneider ein interessantes Zitat von Spex-Papst Diedrich Diederichsen gefunden. Als Reaktion auf die mediale Ignoranz und Hilflosigkeit in ihrem Versuch das Phänomen Punk und New Wave als Jugendbewegung zu erklären schreibt er Anfang der 1980er:

    kuh_piss

Wenn die Welt sich zu verändern droht und der letzte Rest von Wissen über dieselbe den Schreibern zwischen den Fingern zerrinnt, wird mit Vehemenz gegen das Neue angeschrieben. Eine der groteskesten Erscheinungen des deutschen Journalismus seit Kriegsende war das Zeit-Dossier (!) über die neue deutsche Welle von Franz Schöler. Da wurde jede Art deutschsprachiger Musik der letzten fünf Jahre zu einem Gebräu zusammengerührt. Dem dann auch noch […] der moralisierende Zeigefinger eines wagen Faschismusverdachts vorgehalten wird. […] Er kämpft um seine Existenz. Er hat keine Ahnung und muss nun all das, wovon er keine Ahnung hat, präventiv ausschalten.

Und nun ersetze Punk und neue deutsche Welle durch Digitalisierung, Filesharing oder Piraten.

Ich bin mir jetzt bloß nicht sicher, ob das nun ein Beispiel dafür ist, dass die Ablehnung und Ignoranz der klassischen Medien nur vorübergehend ist und am Ende alles gut wird, oder ob das Gegenteil der Fall und das Unverständnis eine Konstante ist, die immer wieder zu verschiedenen Themen und Zeiten um sich schlägt.


Urheberrechtsdebatte: Verhärtete Fronten

Copyright, Course Materials and YOU!
Urheberrecht: Komplexes Thema mit verhärteten Fronten. Wer löst den Knoten? Illustration: Giulia Forsythe
Lizenz: CC-BY-NC-SA Original: Flickr

Ich habe mal versucht, die aktuelle Urheberrechtsdebatte zusammenzufassen.
Veröffentlich auf der Homepage der Heinrich Böll Stiftung


Vortrag: „Der arabische Frühling“ von Stefan Urbach

Großartiger Vortrag von Stefan Urbach.
Wer das Lebensgefühl der Piraten verstehen will, wird hier ganz weit kommen.


Farewell, Herr Wulff

2010 war ich für Wulff bei der Wahl zum Bundespräsidenten. Warum? Weil ich eigentlich für die Abschaffung des Amtes bin und in Wulff sah ich den Kandidaten, der so derart langweilig ist, dass eine Implosion des Amtes durch Nichtwahrnehmung möglich schien.

Und es ging auf, das Konzept, man hörte nichts aus Bellevue und wenn, dann war es so substanz- und folgenlos wie das ganze Amt per definitionem.

Alles lief also wie gewünscht, bis im Dezember 2011 die BILD Zeitung auf den Plan trat und der wunderbaren Langeweile ein jähes Ende setzte. Vorwürfe, moralische Anklagen und Wut über die Bereicherungsmentalität einer Nomenklatura auf der einen Seite, unbeholfene Verteidigungsversuche und Häppchen für Häppchen Pseudoaufklärung und Scheintransparenz auf der anderen. Und das ganze genüßlich und ohne jegliche Selbstreflexion ausgeweidet und seziert von der öffentlichen Meinungsmaschinerie.

moral-choices11

Doppel-Moral
Die Frage ist, welche ethischen Erwartungen haben wir eigentlich an öffentliche Ämter? Und, wenn wir solche Anforderungen definieren, sind sie dann für alle gleich? Erste Zweifel an der eigenen moralischen Empörung äußerte ich hier. Damit möchte ich keine Selbstbedienungsmentalität relativieren und schönreden. Dass andere auch korrupt sind und sich mit kleinen Geschenken zu Gegenleistungen verpflichten lassen, macht gar nichts besser. Sicher, die Übergänge sind hier wirklich fließend und es gibt niemanden, der nicht Dreck am Stecken hat. Trotzdem, ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der es nicht möglich ist von Freunden Geschenke anzunehmen die sich nur noch über Nutzen und Leistung definiert. Diese Diskussion muss also geführt werden (und sie wird es auch: #occupy), aber sie exemplarisch an der Person/Institution Bundespräsident Wulff abzuladen, ist falsch, ist unglaubwürdig und in der Vereinfachung komplexer, gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge einfach nur erbärmlich.

Und gerade die Anhänger einer neuen, von Auflösung der Institutionen und Liquid Feedback geprägten politischen Kultur geraten mit einer scharfen Kritik an Wulff in die Bredouille. Man kann nicht für sich selbst (und zu recht) Fehlbarkeit einfordern und sie gleichzeitig der alten politischen Klasse absprechen. Mit einer solchen Doppelmoral schadet sich die neue Bewegung, indem sie sich genauso unglaubwürdig macht wie die alte.

And the winner is?
Nun ist Wulff zurückgetreten.
Aber wer hat jetzt eigentlich gewonnen? Die Moral? Die Demokratie? Die BILD? Die Gerechtigkeit? Die Politik? Die Meinung? Die Glaubwürdigkeit?

Und wer kommt jetzt? Ein Innehalten und Nachdenken über das Amt des Bundespräsidenten scheint es nicht zu geben. Dabei wäre genau das jetzt angebracht. Und zwar nicht mit erhobenem Moralfinger, der anklagend auf Wulff zeigt, sondern ganz losgelöst von allen bisherigen Kandidaten und Amtsträgern, einzig mit Blick auf die Funktion des Amtes selbst. Eine ganz sachliche Bilanz, eine Kosten-Leistungsrechnung, um mal einen Begriff aus der Betriebswirtschaft zu bemühen, wie würde die wohl ausfallen? Vielleicht käme man am Ende dieses Nachdenkens zu der Erkenntnis, dass alle Funktionen des Bundespräsidenten genauso gut durch das BVerfG (Prüfung von Gesetzen) oder durch jeweils passende Vertreter aus Politik oder Zivilgesellschaft (Repräsentation) erfüllt werden könnten. Oder man käme zu dem Schluss, dass es doch Funktionen gibt (Auflösung des Parlaments), die die Existenz eines Bundespräsidenten notwendig und sinnvoll machen. In jedem Fall hätte man mal wieder nachgedacht und der politischen Erosion durch sinnentleert und als Selbstbedienungsläden erscheinende politische Institutionen etwas entgegen gesetzt.

Side Note
Warum bloss, wollen so viele Leute, dass die Piratenpartei den armen Georg Schramm kaltstellt? Es kann keinen Bundespräsidenten geben, der Teile seines Volkes zum Teufel jagen will. Aber genau das zu formulieren ist doch die Stärke und das Tolle an Georg Schramm. Also bitte, lasst ihn weiter seinen Job machen. Deutschland braucht ganz dringend einen wie ihn. Nur eben nicht als Bundespräsidenten. In dem Amt wäre er tot.


Digitale Maoisten Diktatoren?

Das altbekannte Argument geht so:

Diese ganzen Daten im Netz sind ja vielleicht nicht so gefährlich, solange wir in einer Demokratie leben. Aber was ist, wenn wir eines Tages wieder mit einer Diktatur konfrontiert werden? Dann wissen sie alles über dich und du hast es ihnen frei Haus geliefert.

Bullshit.

Das mag stimmen in autoritären Regimen, die gegen ein paar mutige Blogger und Aktivisten leicht die Oberhand gewinnen und einfach alles wegsperren was stört.

Aber im freien Web 2.0 ist in inzwischen vielen Jahren ein Klima entstanden, das gegen autoritäre Strukturen zunehmend immun ist.

Das Netz ist so voll von Wissen, von Möglichkeiten, von Angeboten, aber um die zu nutzen braucht es ein großes Maß an Selbstermächtigung/Selbstwirksamkeit.

Die Kriminalisierung einer Filesharing Kultur, die die Verwertungsgesellschaften mit Hilfe eines veralteten Urheberrechts und neuen Abkommen wie ACTA, SOPA/PIPA durchsetzen wollen ist gerade deshalb so fatal, weil sie genau da ansetzt, wo Freiheit, Demokratie und Menschenrechte entstehen: beim selbstbewussten Menschen, der durch eigenes Tun etwas erreichen, etwas lernen und verändern kann. Der Kampf gegen das freie Netz zerstört eben nicht nur die demokratischen Strukturen des Netzes selbst, sondern auch den Geist, der Freiheit und Demokratie immer von neuem entstehen lässt und belebt.

Umgekehrt heisst das, Generationen von freien, selbstbewussten Menschen lassen sich nicht so leicht verführen. Sie haben kein Interesse an irgendwelchen Führern, die ihnen das Denken abnehmen.
Gerade deswegen haben die politischen Institutionen es so schwer heute. Sich selbst ermächtigende Menschen misstrauen den Repräsentanten zunehmend. Sobald die ihre Rolle nicht mehr als Stellvertreter, sondern als Vertreter eigener Interessen wahrnehmen, haben sie unser Vertrauen verloren und werden es immer schwerer haben wiedergewählt zu werden. Gleiches gilt für die Verwertungsindustrie. Sollte sie doch eigentlich die Interessen der Autoren und Künstler vertreten, verhindert sie stattdessen vehement die Entstehung neuer zeitgemäßer Strukturen. Die Netzgemeinde lässt sich das aber nicht mehr gefallen. Das Netz hat seinen Bewohnern beigebracht, dass sie selbst etwas ändern können, dass ihr Tun eine Wirkung hat. Das ist wohl neben dem Zugang zu freiem Wissen die beste und nachhaltigste Errungenschaft der digitalen Gesellschaft.

Das Netz hat in weiten Teilen die Funktion von Institutionen wie Schulen und Universitäten übernommen. Die Fähigkeiten, die Menschen brauchen, um Empathie, Rücksicht, Wissen und Verantwortung zu erlernen, an Schulen lernen sie sie kaum noch. Dabei müssten die alten Institutionen gar nicht so abgehängt werden. Aber dann müssten sie, anstatt das Netz zu bekämpfen, endlich lernen, welch gigantischen Schatz sie zu versenken versuchen.

STOPPT ACTA / STOPPT SCHULTROJANER / STOPPT VDS

FÜR NETZNEUTRALITÄT / BREITBAND FÜR ALLE


Die kleine Schwester

Wir hatten uns lange nicht gesehen. Und nun hing ein Seil zwischen uns, verband uns miteinander wie eine noch nicht durchtrennte Nabelschnur.

Früher hatten Tobias und ich in derselben Fußballmannschaft gespielt. Er war unser bester Stürmer und seine Tore waren Weltklasse. Meistens ließ er den Ball elegant von der Brust abtropfen, täuschte erst eine Flanke an und schoss dann direkt ins Tor. Doch eines Tages hörte er einfach auf. Nach dem Spiel drückte er mir seine Fußballschuhe in die Hand und ging. Er war kein Typ für große Worte.

Tobias hatte eine Schwester. Sie war gelähmt und saß im Rollstuhl. Auch ihr Kopf schien nicht in Ordnung zu sein. Sie konnte nicht sprechen. Manchmal stöhnte sie, doch das waren keine Worte, sondern nur Geräusche, die aus ihr hochstiegen, wie das leise Gluckern von Wasser in einem tiefen Brunnen.

Ein paar Mal kam Tobias noch vorbei, wenn wir ein Spiel hatten. Er saß mit seiner Schwester am Spielfeldrand, er auf der Trainerbank, sie in ihrem Rollstuhl daneben. Sie hielt den Kopf immer ein wenig schief und ständig lief Spucke aus ihrem Mund. Tobias zog dann ein Tuch aus seiner Hosentasche und wischte ihr das Gesicht ab. Irgendwann war das Tuch ganz feucht und schleimig. Aber ihm schien das nichts auszumachen.

Dann kam er gar nicht mehr. Weil seine Eltern beide wieder arbeiten mussten, hieß es. Aber ich glaube, er hatte es einfach nicht mehr ertragen, uns beim Spielen zuzusehen.

Ich war im Fußballspielen eine ziemliche Niete. Viel lieber ging ich zum Klettern in die Berge. Als Kind hatte ich schreckliche Höhenangst. Später lernte ich, die Angst zu überwinden. Ich liebte die Berge, wollte eins mit ihnen sein. Nach einer Weile beim Klettern fühlte sich die Oberfläche der Felsen merkwürdig weich an und meine Berührungen waren voller Zärtlichkeit. Die Berge waren für mich wie Freunde, immer da, wenn man sie brauchte. Zuverlässig. Man musste viel geben, um sie nicht zu enttäuschen, durfte niemals nachlässig sein oder unaufmerksam. Aber dann offenbarten sie all ihre Schönheit. Dort zwischen den Felsen war ich frei und unabhängig. Wenn ich eine schwierige Wand überwunden hatte und oben auf dem Berg stand, fühlte auch ich mich wie ein Sieger.

Manchmal traf ich Tobias und seine Schwester auf der Straße. Dann wechselten wir ein paar Worte oder winkten uns nur zu. Die beiden waren immer ganz vertieft miteinander. Ihr Anblick berührte mich, sie strahlten so eine innige Versunkenheit aus. Es schien, als genügten sie sich selbst und brauchten sonst niemanden. Das imponierte mir.
Letzte Woche sah ich Tobias vor der Apotheke. Er war ausnahmsweise allein und ich sagte Hallo. Zuerst wirkte er ganz in sich gekehrt, als hätte er lange mit niemandem gesprochen. Aber ich fragte, wie es ihm geht und da brach es plötzlich aus ihm heraus wie aus einem Vulkan. Seine Worte flossen auf mich zu wie heiße Lava und als sie abgekühlt waren, hüllten sie mich ein wie eine versteinerte Kruste. Was Tobias mir erzählte, konnte ich kaum glauben. Und ich hatte Angst, daran zu ersticken.

Ein paar Tage später rief ich ihn an und wir verabredeten uns zum Klettern. Ich wollte raus aus der Stadt, rauf auf die Berge und hoffte dort oben die Klarheit und Weitsicht zurückzugewinnen, die ich verloren hatte.
Es hatte die ganze Nacht geregnet. Als wir uns am Morgen trafen, hingen noch tiefe Wolken über der Stadt, aber inzwischen war es trocken.
Tobias hatte seine Schwester mitgebracht. Damit hatte ich nicht gerechnet. Warum war sie dabei? Was glaubte Tobias, warum ich ihn angerufen hatte? Dachte er, wir wären jetzt Verbündete? Wollte er sein Geheimnis jetzt mit mir besiegeln? Hatte er sie etwa deswegen mitgenommen? Ich sah die beiden an und mir lief eiskalter Schweiß über den Rücken.

Als wir in den Bergen ankamen, fühlte ich mich besser. Die Luft, die ich in den letzten Tagen wie viel zu heißen Wind nur mühsam durch meine Lungen gepresst hatte, konnte jetzt wieder freier fließen. Da Tobias noch nie geklettert war, hatte ich Schuhe, Gurte, Karabinerhaken und Seile für uns beide mitgebracht. Ich prüfte die Ausrüstung. Alles war vollständig und in gutem Zustand. Ich war immer sehr penibel in diesen Dingen.
Als ich Tobias den Gurt umschnallte, überkam mich eine schreckliche Übelkeit. Ich ekelte mich davor, ihn anzufassen. Ich zog den Gurt unter seinem Schritt hindurch und schnallte ihn fest. Dann befestigte ich den Achterknoten vor seinem Bauch.
Die Oberfläche der Felsen war noch etwas feucht und glitschig vom nächtlichen Regen. Aber es klarte allmählich auf und hin und wieder schaute die Sonne aus der auflockernden Wolkendecke hervor. In die Felsen waren schon Eisenhaken geschlagen, wir mussten nur noch hochklettern und unsere Sicherheitsseile mit den Karabinern an den Haken befestigen. Tobias ließ seine Schwester am Fuß der Felswand sitzen. Bevor wir uns an den Aufstieg machten, legte er ihr eine Decke um die Beine, wischte ihr mit seinem Tuch einen Speichelfaden vom Kinn und versprach, bald wieder da zu sein.

Er hielt sein Versprechen. Als sich das Seil aus seinem Gurt löste, sah ich das Entsetzen in seinen Augen. Er sah mich an und schien nicht zu verstehen. Dann stürzte er den Felshang hinunter. Ich konnte den dumpfen Aufprall deutlich hören, aber er übertönte nicht den lauten Schlag meines Herzens. Seit Tagen pumpte es die immer gleichen Sätze durch mich hindurch: „Ich ficke meine Schwester. Jeden Tag. Nach der Schule, bevor meine Eltern von der Arbeit kommen, nehme ich sie mir vor. Ich benutze Gummis, damit sie nicht schwanger wird. Ich glaube, ihr gefällt es auch.“

Als ich kurze Zeit später unten ankam, lag Tobias direkt zu ihren Füßen. Seine Schwester saß in ihrem Rollstuhl, wie immer. Nur ihre Hände waren vor Kälte rot angelaufen und ein eingetrockneter Speichelfaden klebte an ihrem rechten Mundwinkel. Ihr Kopf bewegte sich rhythmisch vor und zurück. Immer wieder. Vor und zurück. Vor und zurück. Vor und zurück.

Ich rief einen Notarzt und dann brachte ich Tobias’ Schwester zu ihren Eltern. Ich weiß nicht mal ihren Namen.

Meine erste Kurzgeschichte anlässlich eines Schreibwettbewerbs zum Thema „Abseitig“.


Das Ende des Dualismus ist nicht das Ende der Welt

Der gewaltigste Grabenkampf der Gegenwart scheint sich zwischen der digitalen und der analogen Welt abzuspielen. Dieser Zwei-Fronten-Krieg wird allerdings nur von Teilen der Gesellschaft noch als solcher wahrgenommen. Und zwar von denjenigen, die sich selbst vorwiegend in der analogen Welt bewegen und verorten. Ihr Dasein im Digitalen nehmen sie ganz stark als Ausflug wahr, als Wegbewegung aus dem „echten Leben“. Manche reisen dabei ins nähere Umland, das ihnen schon weitgehend vertraut ist, andere machen Fernreisen in fremde und beängstigende Kulturen. Aufregende Momente, aber man ist froh, wenn man wieder in der analogen Heimat angekommen ist.

Dualismen sind Konstruktionen, Versuche, eine überwältigende Menge an Informationen auszubalancieren und handhabbar zu machen, die zwar manchmal das Leben erleichtern, aber an der wabernden, chaotischen Wirklichkeit eigentlich immer weit vorbei zielen.

Im Fall der Digitalisierung beeinflussen sich die beiden vorgestellten Sphären längst in einer Weise, die eine gedankliche Aufspaltung zunehmend absurder werden lässt.

Das digitale Zeitalter zeichnet sich ja nicht dadurch aus, dass man die Wahl hat im Internet unterwegs zu sein und sich an Sozialen Netzwerken zu beteiligen. „Es zeichnet sich aus durch Dokumentation (Aufzeichnung), Messung, durch Berechnung, Planung, Simulation, Verdichtung sowie die Steuerung von Prozessen in Schritten und macht Handeln effizienter in dem Sinne, dass es Ressourceneinsatz und Ergebnisse aneinander messbar macht, Information ohne Verzögerung bereitstellt, und Standardisierung ermöglicht“, wie Christoph Kappes in seinem Thesenpapier zu Veränderung von Politik durch Digitalisierung anlässlich seines Vortrags auf der Jahrestagung der Grünen Akademie der Heinrich Böll Stiftung am 21.01.2012 geschrieben hat. Zum Thesenpapier von Christoph Kappes

Warum also halten wir so verzweifelt an einem Dualismus fest, den wir in anderen Lebensbereichen längst beerdigt haben, der uns lästig geworden ist und bestenfalls noch belächelt wird? Niemand würde heute z. B. noch Geschlecht mit Gender gleichsetzen, die Genderdiskussionen der letzten Jahrzehnte haben die Übergänge zwischen und innerhalb der Kategorien fließend gemacht. Nicht nur in Bezug auf Gender, sondern inzwischen endlich auch auf die Kategorie Geschlecht. Heute ist Intersex eine anerkannte Realität im Fluss des Lebens.

Und es geht weiter. Die Piratenpartei ruft als Reaktion auf die Kritik an ihrem extrem hohen Männeranteil zur Post-Gender-Bewegung auf. Aber was heißt das? Es ist ja nicht so, als hätten sie sich nicht selbstkritisch mit dem geringen Frauenanteil in ihrer Partei befasst. Und eine ganze Reihe an Gründen gefunden, die zum Teil tatsächlich parteiintern sind, aber doch in erster Linie als gesamtgesellschaftliches Phänomen gedeutet werden müssen. Aber als Digital Natives im Kohlenstoffgewand haben sie jeglichen Dualismus in Bezug auf die Digitalisierung längst überwunden. Wieso sollten sie ihn in Bezug auf Geschlechterrollen also jetzt wieder einführen? Gleiche Chancen für alle in allen Bereichen. Gute Voraussetzungen dafür zu schaffen bedarf möglicherweise sogar ein paar regulierender Eingriffe von Seiten der Politik, aber viel wichtiger ist es (Denk-)Räume zu schaffen in denen der Geist (angst-)frei fließen kann. Dafür brauchen wir vor allem eins nicht: Duale Systeme, die sich feindlich gegenüberstehen.

Eine ähnlich tiefe Kluft gibt es sonst eigentlich nur noch im Sport. Hier fängt die Trennung von Geschlechtern in der Umkleidekabine an und sie wird kaum hinterfragt. Noch heute gilt im Sport, und nur dort, das Motto „separate but equal“. In keiner anderen gesellschaftlichen Sphäre wird diese Trennung noch akzeptiert. Wann also fordern wir erstmals gemischte Teams im Fußball, im Basketball, American Football? Wann endlich wird es die ersten Quiddich-Meisterschaften geben?
Hier sei der Vortrag von Andrei S. Markovits empfohlen. Audiomitschnitt 60: Frauen kicken!

Dualismen sind eine wichtige Etappe zur Bewältigung komplexer Wirklichkeiten, sollten aber zugunsten frei fließender Gedanken wieder aufgelöst werden.


Rezension: Das neue Lexikon des Unwissens. Worauf es bisher keine Antwort gibt

In diesem Buch verbreiten die Autoren des neuen Lexikons so viel Wissen über das Unwissen, dass es eine wahre Freude ist. Und das tun sie mit der Lässigkeit und Leichtigkeit, die sich nur dann einstellt, wenn ein Themenkomplex wirklich durchdrungen und verstanden wurde.

Das Unwissen, das hier behandelt wird ist keineswegs trivial. Voraussetzung für alle behandelten Themen war laut Vorwort, dass auch Experten sagen „‚wissen wir nicht“‚. Das Themenspektrum ist weit gefächert, von Außerirdischen über Braune Zwerge und Dunkle Energien zurück zu ganz irdischen Angelegenheiten wir Brüste, Ernährung und Krieg.

Immer wenn ich dachte „‚Häh, wo ist denn da das Unwissen?“‚, was oft vorkam, wie zum Beispiel beim Kapitel ‚“Kilogramm“‚, stellte ich schnell fest, dass ich mit meiner Vorstellung ganz falsch lag. Meine Annahme von durchforschtem und eindeutigem Wissensstand wich der Erkenntnis, dass sie wohl nur meinem Bedürfnis nach Sicherheit und Klarheit zu verdanken war und in Wahrheit viel mehr Ungewissheit in der Welt ist. Dieser doppelte Effekt von Erkenntnisgewinn und Wissensabnahme war immer wieder beeindruckend.

Das Lexikon des Unwissens ist bei aller Themendichte absolut partytauglich. Getestet habe ich das auf einer Thanksgiving Party. Als ich anfing von Logarithmen zu erzählen und dem faszinierenden Phänomen, dass möglicherweise mehr Zahlen in der Welt mit 1 als z.B. mit 7 oder 9 beginnen, gab es zunächst hektische Fluchtbewegungen zum Buffet. Aber dann kamen sie doch alle wieder, der Truthahn wurde kalt und stattdessen ‚Benfords Gesetz‘ heiß diskutiert.

Uneingeschränkte Kaufempfehlung für alle, die gern ganz viel Neues lernen, um damit ihre Unwissenheit zu steigern.

amazon.de Rezension

Das neue Lexikon des Unwissens. Worauf es bisher keine Antwort gibt, Kathrin Passig, Aleks Scholz, Kai Schreiber


Krise?

Finanzkrise als mentale Krise?
Die Finanzkrise kommt nicht mehr aus den Medien heraus, jetzt gibt es Schuldenschnitt, Beteiligung der Banken, Vergrößerung des Rettungsschirms und den ominösen Hebel, der Geld beschafft, wo kein eigenes ist. Je nach Couleur wird auf Politiker, Banken oder Griechen geschimpft, manche wünschen sich die gute alte D-Mark zurück, die gleichen wollen vermutlich auch gern die Landesgrenzen wieder dicht machen. Gartenzaun, quietscht es in mir auf. Aber die sind ja alle noch harmlos im Vergleich zu denen, die die Berliner Mauer wieder haben wollen. Vor allem in Prenzlauer Berg. Interessanterweise kommen viele von denen aus Westdeutschland. Aber ich schweife ab.

Vielleicht ist es einfach zu banal, aber wieso diskutiert niemand die Finanzkrise als mentale Krise? Oder anders. Man könnte ja im wirtschaftlichen Jargon bleiben und von gesättigten Märkten sprechen, die kaum mehr wachsen. Die träge geworden sind. Also nochmal anders, wieso spricht eigentlich kaum jemand vom Zusammenhang zwischen satten Märkten und satten Menschen?  Die Trägheit des Marktes entspräche dann der Trägheit des Menschen.

Endgame?
Schlimm ist daran zunächst mal gar nichts. Es hilft nur dabei, die Dinge ins rechte Licht zu rücken und den Schuld(en)zuweisungen ein Ende zu bereiten. Denn Schuld sind eben nicht nur die anderen, sondern wir alle tragen unseren Teil zur gegenwärtigen Situation bei. Der Zusammenhang zwischen der Sättigung von Markt und Gesellschaft verdeutlicht entweder den Abgrund der Krise, wenn man ein System erhalten will, das auf stetiges Wachstum ausgerichtet ist oder es eröffnet die Chance auf eine Neubewertung der Finanzkrise als Endpunkt eines Systems, das sich selbst überlebt hat und nur noch ein bisschen zuckt.

Problematisch dabei ist, dass das gleiche System andernorts quicklebendig ist und von Endgame keine Rede sein kann. Der hier beschriebene Zusammenhang trifft also nur auf Europa zu. In den USA funktioniert er schon nur noch bedingt. Zwar ist auch dort Krise und die Erzählung vom American Dream vielerorts dem Alptraum Trailer Park gewichen. Aber es gibt doch noch gravierende Mentalitätsunterschiede.

Systemerhalt, Systemwechsel oder was ganz Neues?
Will man das System also erhalten, dann ist die Krise wirklich gravierend. Dann reichen Rufe nach sozialer Marktwirtschaft statt Turbokapitalismus längst nicht mehr aus. Denn dann lautet die Diagnose: der Patient ist schwerkrank. Nicht unheilbar, aber schwer und die Krankheit wurde lange verschleppt. Der Patient, das sind das Wirtschaftssystem, die politischen Institutionen und Wir. Und wir müssten zurückfinden zu altem Biss, müssten wieder hungriger werden. Lebendiger. In diesem Aufruf steckt viel kreatives Innovationspotential, aber sicher auch viel FDP, im Sinne von einer Abkehr von gewissen Anspruchshaltungen und Fürsorgeerwartungen an den Staat. Und der Appell an die hochgekrempelten Ärmel weckt natürlich sofort ein Bild an den verschwitzten Arbeiter, den es längst nicht mehr gibt. Trotzdem, noch gibt es Entwicklungspotenziale im Energiesektor, der Speichertechnologie, im Marketing usw. Dass auch hier die hochspezialisierten Arbeitsplätze langsam in Gefahr geraten, spricht allerdings gegen den systemerhaltenden Ansatz.

Im Falle eines Systemwechsels ist alles offen, der Zusammenhang zwischen Markt und Mensch würde entkoppelt, die Diagnose z. B. lauten, das auf  Wachstum und Beschleunigung fußende System ist krank und muss überwunden werden, der Mensch dagegen ist im Prinzip gesund, der Wunsch nach Entschleunigung und Work-Life-Balance ist richtig, ausgebrannte Manager auf allen Titelseiten sorgen für das Bild zum Ton. Eine andere Form des entkoppelnden Systemwechsels könnte natürlich auch so aussehen, dass der Kapitalismus sich noch weiter beschleunigt und wächst, der Mensch nicht mehr Schritt halten kann, aussortiert und durch Maschinen komplett ersetzt wird. Es gibt eine Grundversorgung und zur Befriedung der Massen Brot und Spiele. Klingt auch nicht so abwegig, wurde in etlichen Endzeitfilmen und -büchern schon beschrieben, wird aber meines Wissens von nicht so vielen laut gefordert.

Utopisten und Spinner vor, Bedenkenträger setzen und Klappe halten. Bestimmt gibt es ein System, das nach anderen Prinzipien funktioniert als der (von sozialer Marktwirtschaft bis turbo Heuschrecken) Kapitalismus. Wie das genau aussehen soll, wenn wir nicht auf altbewährte Alternativen zurückgreifen wollen, ist so spannend wie unklar. Allerdings eins ist sicher: die enormen Veränderungen (Gefahren und Chancen, Chancen, Chancen), die sich durch das Internet auf ökonomischer, sozialer und synaptischer Ebene gerade vollziehen, haben so viel in Bewegung gesetzt, dass es vermutlich kaum ein besseren Augenblick gibt als diesen, um geradezu evolutionäre Ausmaße anzunehmen.

Sehnsucht nach Krise?
Meine Befürchtung ist allerdings eine ganz andere: Das, was sich gegenwärtig als Suche nach der Alternative zum Kapitalismus in den vielen #occupy Bewegungen zusammenfindet, wird eben auch von einer diffusen sozialromantisch verklärten Sehnsucht nach Krise getragen. Überwältigt von der Komplexität der politischen und finanzwirtschaftlichen Zusammenhänge und dem Eindruck, dass diese Überwältigung auch vor den sogenannten Experten in Politik und Wirtschaft nicht halt macht, sehen viele das Heil nur noch im vollständigen Zusammenbruch des Systems. Arm, aber sexy?  Wohl kaum.

Es muss sich was ändern. Oh je, CDU Wahlspruch Berliner Landtagswahlen. Also: Fertigmachen zum ändern. Besser? Ob sich das System aus sich heraus erneuern kann, um wieder innovativ, kreativ, unbürokratisch und am Wohl des Menschen orientiert zu sein, oder ob ein ganz neues Konstrukt gebraucht wird, um diese Grundlagen zu schaffen, weiß ich nicht. Aber was ich weiß, ist, dass revolutionäre Umstürze mit völligen Systemzusammenbrüchen sehr blutige Angelegenheiten sind, von denen man sich lange nicht erholt. Wer sich danach sehnt, dem seien ein paar Jahre in wirklich armen, wirklich korrupten, wirklichen Diktaturen empfohlen. Für Anfänger Russland oder die Ukraine, für Fortgeschrittene vielleicht Burma oder Nordkorea.

European Dream
Statt auf Revolution sollten wir auf die innovative Kraft der Evolution setzen. Evolutionen verlaufen viel langsamer als Revolutionen, aber es gibt evolutionäre Sprünge und die digitale Evolution ist sicher eine, die uns einen ganz großen Schritt nach vorne bringt. Momentan befinden wir uns vermutlich gerade in dieser irrwitzigen Schwebephase eines Dreisprungs.  Diesen Schwung wünsche ich mir in den Diskussionen um die sogenannte Finanzkrise, die doch viel mehr ist als das, wenn man den Zusammenhang von Markt und Mensch als gegeben sieht. Und vielleicht ist sie gar keine Krise, sondern nur eine Aufforderung zum European Dream.


Rezension: Kunst kostenlos in Berlin: 23 Spaziergänge zu Kunstwerken unter freiem Himmel

Ein wirklich gelungenes Buch!
Gegliedert anhand der 23 Berliner Altbezirke führt die Autorin die Leser auf 2 bis 3-stündigen Spaziergängen an Orte und zu ausgewählten Skulpturen, die man sonst so wahrscheinlich nie entdeckt hätte. Ich lebe seit 24 Jahren in dieser Stadt, kenne mich sowohl in den West- als auch in den Ostbezirken ziemlich gut aus – und war überrascht, wie wenig ich weiß von der Kunst, die wirklich überall herumsteht.

Jeder Spaziergang in den verschiedenen Bezirken ist unter einem ganz eigenen Motto beschrieben und der Autorin gelingt es alle erwartbaren Klischees auszulassen. Wer in Marzahn zum Beispiel mit einem Ausflug durch die Kunstwerke inmitten der Ostplatte gerechnet hat, weit gefehlt. Auch Kreuzberg oder Neukölln lernt man von einer völlig unbekannten Seite kennen.

Natürlich ist in den Weg- und Skulpturenbeschreibungen keine hohe Literatur zu erwarten, aber die Autorin versucht das glücklicherweise auch gar nicht erst. Sie ist vor allem darauf bedacht, präzise Ortsangaben und interessante Informationen zum Hintergrund der Kunst zu liefern. Dabei kommt der Humor nicht zu kurz und ich habe an vielen Stellen lauthals losgelacht. Kunst und Lachen kostenlos in Berlin. Was will man mehr?
Volle Punktzahl!

amazon Rezension

Kunst kostenlos in Berlin: 23 Spaziergänge zu Kunstwerken unter freiem Himmel, Ilka Schneider


Meine Daten gehören mir!

3 Jahre bei Facebook generieren bei mittelmäßig aktiven Usern ungefähr 1200 Seiten Datenmaterial.  Und schon geht wieder ein tiefes Stöhnen durch den Datenschutzwald. Aber durch was entsteht eigentlich dieser Schutzreflex? Warum müssen wir Daten schützen? Vor was? Was macht sie zu schutzbedürftigen Gütern?

Ich verstehe den Schutzreflex ja in Bezug auf das Urheberrecht. Jedenfalls solange der Reflex sich mit den Gegebenheiten und Erfordernissen einer neuen medialen Welt verbindet. Aber ich bin keine Juristin und werde den Teufel tun, mich auf dieses Glatteis zu begeben. Aber wer da Spaß haben will, sei auf den google+ acct. von Christoph Kappes verwiesen. Aber warm anziehen 🙂

Ich will auch nicht darüber sprechen, ob Facebook denn nun wirklich der böse Megamonopolist ist oder nicht. Auch dazu haben andere schon sehr schlaue Sachen geschrieben:
Einmal Marcel Weiss und einmal Gunnar Sohn

Mich interessieren mehr die Daten selbst. Was sind denn diese Daten, dass wir sie reflexartig schützen wollen? Der Datenschutz selbst bezieht sich ja klassischerweise auf personenbezogene Informationen. Also Name, Wohnort, Geburtsdatum und der ganze Kram. Natürlich, solche Angaben gehen niemanden was an. Aber darum kann es bei der ganzen Aufregung um Facebook doch gar nicht gehen. Die 1200 Seiten an Datenmaterial bestehen ja nicht aus unseren klassischen personenbezogenen Daten, sondern aus all dem, was wir dort reingefüttert haben. Weil wir das so wollten.

Natürlich ist mir die privilegierte Situation bewusst, in der all diejenigen befinden, die nicht unter Repression und politischer Verfolgung leiden. Aber anstatt immer wieder darauf hinzuweisen, dass es diese Verfolgten in China, in Osteuropa, in all den arabischen Ländern gibt, die sich gerade inmitten von Transformationsprozessen  befinden, anstatt immer alle Standards an deren Situation auszurichten, wäre es da nicht auch mal interessant sich mit der eigenen Lage zu beschäftigen? Denn das ist keine Ignoranz, kein Egoismus. Im Gegenteil. Das eigene Haus zu löschen, weil es woanders brennt, mal ehrlich, das ist doch bekloppt.

Aber ein Haus zu bauen, in dem es sich gut wohnen lässt und darüber nachzudenken, was die Bestandteile eines guten Hauses ausmacht, aus was sie sich zusammensetzen, wer wie viele Zimmer in welcher Größe und von welchem Zuschnitt haben will, mit Tür oder ohne, you get the picture. Und irgendwo in dem ganzen Setting gibt es sogar Statiker, die einen Blick darauf haben, dass das ganze sicher ist und nicht einstürzt. Das wären in der Analogie dann die Datenschützer. Aber im Verhältnis zu den Architekten, den Einrichtern, den Elektrikern, Maurern etc. und vor allem den Bewohnern, haben sie einen kleinen Anteil am Gesamtwerk. Wichtig, klar, aber nicht bestimmend. Und vor allem, was sie schützen ist das Gebäude, nicht die Bewohner selbst. Die Bewohner sind ja gerade durch die Schaffung von guter Umgebung in der Lage sich maximal frei zu entfalten. Das ist doch der Sinn von guter Architektur, von modernen städtebaulichen Utopien.


Filmrezension „District 9“, USA 2009, R: Neill Blomkamp

Seit 20 Jahren schwebt ein offensichtlich manövrierunfähiges, riesiges Raumschiff über Südafrikas Metropole Johannesburg und die Aliens, die nach 3 Monaten krank und halbverhungert aus diesem Raumschiff geholt wurden, leben seither zusammengepfercht im District 9, einem Slum vor den Toren Johannesburgs, verwahrlost, ausgegrenzt, verarmt, abgeschnitten von jeglicher sozialer Interaktion.

Die Idee des Film ist so einfach wie genial. Im englischsprachigen Raum sind Aliens nicht nur Außerirdische, sondern Ausländer, (Gebiets-)Fremde. Was liegt also näher als eine Kritik an der südafrikanischen Apartheidspolitik, an unserer Asyl- und Migrationspolitik in einen Science-Fiction Film zu verpacken und auf diese Weise bis zur Grenze der Erträglichkeit zu entlarven!

District 9

Die insektoid anmutenden Aliens leben in unwürdigen Verhältnissen, völlig mittellos, im rechtsfreien Raum, ernähren sich zur allgemeinen Belustigung der Menschen von Katzenfutter, da sie das besonders gern mögen, nicht nur optisch scheinbar mehr Tiere als Menschen. Also Kreaturen ohne soziale Strukturen, ohne Bildung, ohne Intelligenz?

Auf der anderen Seiten Multinational United (MNU), ein privater Sicherheits- und Militärkonzern, der damit beauftragt ist, die Aliens aus dem District 9 nach dem außerhalb von Johannesburg gelegenen District 10 umzusiedeln, damit die einheimische Bevölkerung von deren elender Existenz nicht mehr belästigt wird. Beauftragt mit der Umsiedlung wird Mikus van de Merwe, ein angepasster und naiver Mitarbeiter der MNU, dem binnen kürzester Zeit die Situation entgleist und während der Umsiedlungsmaßnahmen die Gewalt eskaliert. Schnell wird auch deutlich, dass das eigentliche Interesse der MNU sowieso darin besteht, die futuristischen Waffen der Aliens unter Kontrolle zu bekommen. Der Haken an der Sache: zur Aktivierung der Waffen braucht es die Alien-DNA. Im weiteren Verlauf wird Wikus mit der Alien-DNA infiziert und beginnt daraufhin zum Alien zu mutieren. Plötzlich ist er der einzige Mensch, der die Alienwaffen bedienen kann. Nun natürlich meistgesucht und gejagt von der Entwicklungsabteilung der MNU. Auf der Flucht vor den Jägern, lernt Wikus im District 9 den Alien Christopher und seinen Sohn kennen. Die beiden sammeln seit 20 Jahren heimlich die damals unter dem Raumschiff herabgefallene außerirdische, mutagene Flüssigkeit, mit Hilfe derer sie das Raumschiff erreichen und wieder in Betrieb nehmen können. Am Beispiel von Christopher und seinem Sohn erkennen wir, dass die Aliens hochintelligente und soziale Wesen sind, die nicht in bildungsferner Armut leben, weil sie es nicht besser können, sondern weil sie von der Mehrheitgesellschaft zu diesem unwürdigen Leben gezwungen werden.

Ein Film in bester Science Fiction Tradition, nichts für schwache Nerven, aber wer durchhält, wird belohnt mit einer fundierten Kritik an einer rassistischen und chauvinistischen Mehrheitsgesellschaft bzw. am Apartheidregime in Südafrika, in dem Fall einer Minderheit, die alle wichtigen Machtpositionen besetzt hat und die soziale und ökonomische Teilhabe der als „Andere“, als Aliens zugerichteten, verhindert.

Wie schon bei der Neuauflage von Battlestar Galactica wird mit der bildgewaltigen Wucht eines Science Fiction Films eine Gesellschaft entlarvt, die durch und durch rassistisch ist, die Genozid betreibt. Während in Battlestar Galactica die Überwindung des Rassismus als einzige Möglichkeit des Überlebens gezeigt wird, bleibt District 9 bei der sehr realistischen Beschreibung der desolaten Zustände.

Gesellschaftskritik ist selten radikaler als im Gewand der Science Fiction.

Rezension im Auftrag der Heinrich Böll Stiftung, 2009


Rezension: Arabboy

Güner Yasemin Balcis Roman „Arabboy“ ist harter Stoff. Mit schonungsloser, manchmal brutaler Offenheit führt uns die Autorin in eine Welt, die ihr zwar vertraut, die aber nicht die ihre ist. Das Buch erschüttert, rüttelt auf und lässt einen nachdenklich und zuweilen ratlos zurück. Was geht uns die Welt eines kriminellen, drogenabhängigen, Frauen und Deutsche verachtenden jungen arabischen Mannes an? Viel, denn er lebt mitten unter uns.

Rashid A. wächst als Sohn einer libanesisch-palästinensischen Familie in Berlin Neukölln auf. Die mit strenger patriarchalischer Hand geführte Großfamilie lebt im von Arabern und Türken dominierten Rollbergviertel. Schon früh flieht Rashid aus den viel zu engen Verhältnissen der elterlichen Wohnung ins Milieu der Jugendlichen Neuköllns. Dort adaptiert er schnell das Gesetz der Straße. Wer Schwäche oder gar Mitgefühl zeigt hat verloren. Rashid glaubt, nur wer sich mit brutaler Härte gegen andere durchsetzt, hat eine Chance einmal der Armut und Tristesse des Viertels zu entfliehen. Sein Leben bewegt sich zwischen Schuleschwänzen, Einbrüchen, Schlägereien, Arbeitslosigkeit und Vergewaltigungen. Bald ist er die rechte Hand des Rotlichtkönigs Aabid, doch während er noch vom schnellen Geld und teuren Autos träumt, ist er schon ein drogenabhängiger Krimineller, der schließlich da landet, wo der Traum vom Paradies sein jähes Ende findet: erst im Knast und dann im Flugzeug. Abgeschoben.

Rashid ist ein typischer Vertreter der so genannten Parallelgesellschaft. Aufgewachsen in einer Familie, in der Gewalt und Unterdrückung an der Tagesordnung sind, einer Familie, der es weder gelingt, die alten, zu Heilsversprechungen stilisierten Traditionen aufrecht zu erhalten, noch in der neuen Gesellschaft anzukommen. In einer Gesellschaft, die es viel zu lange versäumt hat, MigrantInnen zu integrieren, gar ein herzliches Willkommen auszusprechen, eine Gesellschaft die angesichts massiver Gewalt hilflos scheint und allzu oft mit Unverständnis und Ablehnung reagiert.

Das Leben in Deutschland repräsentiert für Rashid und seine Freunde eine liberale Freiheit, in der sie für sich keine Chance erkennen können, sondern die sie als Schwäche verstehen. Selbstentfaltung und Individualismus sind in ihrem Wertekatalog gleichbedeutend mit schandhafter Freizügigkeit und Sittenverfall. Ihr eigenes Weltbild ist durch und durch autoritär und geprägt von Misogynie und Antisemitismus, vom Glauben an die Macht des Stärkeren, von Gewalt und Unterdrückung.

Diese Vorstellungen sind nicht vereinbar mit den Grundwerten demokratischer Verfassungen und müssen zurückgewiesen werden. Doch eins ist klar, die Verteidigung einer freiheitlich-demokratischen Verfassung verläuft nicht entlang einer Wir-Gegen-Die-Anderen-Gefechtslinie, nicht Innen gegen Außen, Deutsche gegen Ausländer. Vielleicht führen die Taten eines Rashid uns an den Kern einer Freiheit, die sich schützen, sich vielleicht sogar eingrenzen muss, um frei zu bleiben. Die Paradoxie dieser Herausforderung gilt es anzunehmen. Die Verteidigung von Demokratie, die den Glauben an eine freiheitliche Grundordnung verloren hat, läuft ins Leere und führt direkt nach Guantánamo. Die Folgen dieses Weges sind verheerend. Nicht nur in der Auseinandersetzung mit den scheinbaren Feinden der Demokratie, sondern vor allem für die Demokratie selbst.

Die kriminelle Energie der in Balcis Roman beschriebenen arabischen (und deutschen) Jugendlichen muss auch als Versuch gedeutet werden, aus der Unterwerfung unter die väterlichen autoritären Strukturen auszubrechen. Ihre Taten sind nicht nur als Angriff auf die Werte freiheitlich-demokratischer Gesellschaften zu deuten, sondern nicht zuletzt auch als Rebellion gegen die verkrusteten Strukturen einer gewalttätigen patriarchalischen Herkunftsfamilie. Besonders eindringlich auf den Punkt gebracht wird die verzweifelte Lage Rashids, als er eines Tages seine Lehrerin bespuckt und diese ihn nach Hause begleitet, um mit seinen Eltern zu sprechen. Dort angekommen, muss die Lehrerin mit ansehen, wie Rashid von seiner Mutter mit einem Stromkabel verprügelt und selbst angespuckt wird.

Wenn wir genau hinsehen, entdecken wir verborgen in Rashids Innerem die unerfüllte Sehnsucht nach Anerkennung. Er mag seinen Mathelehrer, weil dieser ihm einmal seine Tasche anvertraut hatte. Doch als bekannt wird, dass Rashid eine Mitschülerin vergewaltigt hat und der Lehrer seine Abscheu vor dieser Tat deutlich zum Ausdruck bringt, wird aus dem potentiellen Freund in den Augen Rashids sofort ein illoyales und unzuverlässiges Schwein. Wir müssen erkennen, dass Rashid unfähig ist, Gefühle wahrzunehmen oder gar Mitgefühl zuzulassen. Das tut weh. Uns, wenn es gelingt, hinter den schrecklichen Taten Rashids den Menschen zu entdecken und Empathie zu entwickeln und Rashid selbst, weil am Zulassen von Gefühlen, sein Weltbild zerbrechen müsste.

Die Autorin Güner Yasemin Balci ist selbst als Kind türkischer Eltern im Rollbergviertel in Berlin Neukölln aufgewachsen. Sie weiß wovon sie spricht, kennt die Menschen im Kiez und ihre Probleme. Und doch straft sie Rashid mit ihrer eigenen Existenz Lügen. Sie verkörpert das, was wir als „gelungene Integration“ bezeichnen. Sie beweist, dass es einen Weg heraus gibt, der nicht in die Kriminalität führt, es gibt nicht nur die Sprache der Gewalt, sondern die viel kräftigere Sprache der Poesie.

Stilistisch ist der Roman nicht immer gelungen. Im Balanceakt zwischen der nötigen Distanz zum Erzählten und der intimen Kenntnis der Verhältnisse versucht G.Y. Balci einerseits sich ihren Protagonisten im Sprachstil der Straßen zu nähern und andererseits, die Position einer neutralen Erzählerin einzunehmen. Das führt dazu, dass die sprachlich erzeugte Nähe seltsam geglättet erscheint. Dadurch entsteht ein zuweilen sehr diffuses Bild, das ganz zu Unrecht, unglaubwürdig wirkt. Vielleicht wäre Balci dem Leben Rashids in Form einer Dokumentation gerechter geworden.

Das wütende Aufbegehren Rashids trifft uns mitten ins Herz. Es ist der zarte und verletzliche Pulsschlag einer demokratisch verfassten Gesellschaft, den es zu schützen und zu verteidigen gilt. Rashid führt uns an die Grenzen des Liberalismus und macht gleichzeitig deutlich, dass es außerhalb dieser Grenzen kein freies und friedliches Zusammenleben geben kann. Wir müssen unsere Werte verteidigen, nicht gegen Rashid, sondern für ihn. Nur wenn es gelingt, die Substanz demokratischer Werte am Leben zu erhalten und Freiheit nicht einem paranoiden Bedürfnis nach Sicherheit zu opfern, behält die Vielfalt des Zusammenlebens ein menschliches Gesicht.

Güner Yasemin Balci: Arabboy (2008). S. Fischer Verlag. Roman

Rezensiert für die Homepage der Heinrich Böll Stiftung, Sept 08


Rezension: Zwischen Geistern und Gigabytes. Abenteuer Alltag in Taiwan

Sie waren noch nie in Asien? Geschweige denn Taiwan? Sie verwechseln auch immer Taiwan mit Thailand und können sich asiatische Namen überhaupt nicht merken? Und wo genau liegt eigentlich Taiwan?

Weit gefehlt? Sie waren schon etliche Male in Asien und besonders Taiwan hat es Ihnen angetan? Sie studieren Sinologie und Ihre eigenen Kinder haben asiatische Namen?

Welcher der beiden oben genannten Gruppen auch immer Sie angehören, dieses Buch wird Sie begeistern.
Mit unglaublich viel Humor und Sprachwitz nähert sich die Autorin den Menschen und Orten, denen sie während ihres einjährigen Aufenthalts in Taiwan begegnet ist. Ilka Schneider weiß sehr viel über Land und Leute und versteht es meisterlich, dieses Wissen auf unterhaltsame Weise zu vermitteln. Gleichzeitig bewahrt sie sich zu jeder Zeit ein offenes Staunen und eine sich selbst sehr zurücknehmende Neugier. Diese Mischung aus profunder Kenntnis und nicht wertender, zurückhaltender Offenheit zeugt von einer Liebe zu den Menschen, die weder vereinnahmend noch gleichmachend ist. Diese Haltung ermöglicht der Autorin, und damit uns Lesern, einen sehr intensiven Zugang zu einem ganz besonderen Land und deren Bewohnern.

amazon Rezension

Zwischen Geistern und Gigabytes. Abenteuer Alltag in Taiwan, Ilka Schneider